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Sex ist göttlich!
Ein entmystifizierender Blick auf das angespannte
Verhältnis von Kirche und Sexualität.
Von Anil K. Jain
Sexualität hat viele Gesichter.
Sex ist Ausdruck von Liebe und Zuneigung, Macht und Gewalt
Er kann freiwillig oder erzwungen sein, kann ekstatisch und lustvoll oder
lustlos und monoton wirken. Er kann alleine, zu zweit, zu dritt, mit Lebewesen
oder Dingen oder ganz anders praktiziert werden. Einige kümmert er nicht.
Manche, nicht wenige, haben Angst davor. Den meisten
Menschen ist Sexualität wichtig.
Am wichtigsten jedoch, so scheint es, ist Sexualität für
die (christliche) Kirche. Die Kirche hat eine Obsession für Sex: Sie
vermutet ihn in jedem Winkel, auch in jedem Gehirnwinkel und spürt ihn dort als
„Gedankenverbrechen” (in der Form des „sündigen Gedankens”) auf.
Und sie hat auch die meiste Angst vor dem Sex. Die
katholische Kirche hat gar so viel Angst vor dem Sex, dass sie ihn ihren
Priestern verbieten muss. Am liebsten würde sie ihn allen Gläubigen verbieten.
Aber dann würden die Gläubigen irgendwann aussterben – und mit ihnen die
Kirche.
Zwar wird insbesondere im Alten Testament über viele Seiten
hinweg „gezeugt”, doch die
Sexualität erscheint hier reduziert auf ihre Funktion der
Reproduktion.
Sex ist für die Kirche entsprechend ein notwendiges Übel.
Die Wollust (Luxuria), also der Wille zur sexuellen Lust, gilt im Katholizismus
gar als eine der sieben „Todsünden”. Unerbittlich heißt es im Katechismus der
katholischen Kirche: Die Todsünde „zerstört in uns die göttliche Tugend der
Liebe, ohne die es keine ewige Seligkeit geben kann. Falls sie nicht bereut
wird, zieht sie den ewigen Tod nach sich.” (§1874)
Die Angst der Kirche ist berechtigt: Sexualität und
Kirche sind (ungleiche) Konkurrenten.
Die Ablehnung und die Angst, mit der die Kirche der
Sexualität gegenüber tritt, sind aber keineswegs so irrational und überholt,
wie es dem modernen Großstadtbewohner erscheinen mag. Sexualität und Kirche
stehen tatsächlich in einem „naturgegebenen” Konkurrenzverhältnis. Die Kirche
kann sozusagen gar nicht anders, als die Sexualität zu ihrem Feind zu erklären.
Am gefährlichsten ist dabei für die Kirche, auch wenn sie
es offiziell nicht zugeben mag, jene Sexualität, die sich nicht auf die rein
körperliche Lust beschränkt, sondern mit ekstatischem Erleben und tiefen
Gefühlen gepaart ist. Denn auch der christliche Gott der Liebe ist in
seinem
Kern immer noch der eifersüchtige alttestamentarische Gott,
der keine anderen Götter, auch keine Sexgötter, neben sich duldet. Deshalb
teilen alle drei großen „Buchreligionen” – Judentum, Christentum und Islam –,
denen zusammengenommen immerhin über 50% der Weltbevölkerung angehören, mit
ihrem Ursprung auch das angespannte Verhältnis zur Sexualität. Und die Kirche,
als irdische Exekutive der göttlichen Eifersucht, wacht so in der christlichen Welt
noch immer eifersüchtig über die Gefühle, speziell die Liebe der Menschen.
Kann man die respektvolle Liebe zu den Eltern oder zum
Ehepartner, die sorgende Liebe zu den Kindern, die mitleidige Liebe zum
„Nächsten” noch tolerieren und sogar gut heißen, so ist die körperliche Liebe
zu einem anderen Menschen eine potentielle Gefahr für die (exklusive) Liebe zu
Gott. Denn während die Liebe zu Gott abstrakt und „fleischlos” bleiben
muss, kann die Liebe in der Sexualität einen körperlichen Ausdruck erfahren,
die der Liebe zu Gott versagt ist. Dies, so darf vermutet werden, ist der
tiefere Grund für die Überhöhung aller platonischen Formen der Liebe durch die
Kirche bei der gleichzeitigen Verdammung ihrer körperlichen Manifestationen: Da
der Mensch Gott seine Liebe nicht körperlich zeigen kann (es sei denn
sado-masochistisch im Martyrium: als Leiden), muss die körperliche Liebe
schlecht, verdorben und „unrein” sein. Sexualität gilt als eine Triebfeder des
Bösen.
Aber während Gott im Himmel thront, ist der Teufel
offenbar der Herrscher der (Unter-)Welt. Die Tugend ist bitter, die Sünde
jedoch ist süß. Sex macht – zumindest potentiell – einfach mehr Spaß als Gebet
und Buße. Und wo die Kirche nur ein zweifelhaftes Versprechen auf das
Paradies bereit hält, kann die sexuelle Lust ganz aktuell
und unmittelbar erfahren werden. Die Kirche strebt deshalb nicht von ungefähr
danach, diesen überlegenen Konkurrenten zu kontrollieren und zu schwächen. Sie
wendet dazu einen simplen, aber (zumindest in der Vergangenheit) sehr
wirkungsvollen Trick an: Sie versucht nicht nur, Sex zu diskreditieren, ihn von
seiner schäbigen Seite darzustellen, sondern redet den Menschen Schuldgefühle
ein. So erreicht sie nicht nur, dass sich die wahre, ungetrübte Lust für
den/die GläubigeN nur selten einstellen kann, in Schuldkomplexen untergeht,
sondern vermag zugleich ein Produkt zu verkaufen, für das sie im Jahrhunderte
langen Kampf das Monopol blutig erstritten hat: Erlösung (von der Schuld).
Sex ist gefährlich, weil Sex göttlich ist. Tatsächlich
kann man die Kirche als eine Art „Agentur”
betrachten. Als Mittlerin steht sie, ihrem eigenen
Verständnis gemäß, zwischen Gott und den Menschen. Naturgemäß misstraut sie
deshalb allen Versuchen, den Zugang zu Gott auf eigenen, direkteren Wegen zu erreichen.
Die Mystik, die sich Gott in der unmittelbaren Erfahrung
anzunähern versucht, war ihr deshalb schon immer suspekt. Die mystische
Praxis ist gewissermaßen ein Koitus mit Gott, der in einem religiösen Orgasmus
gipfelt, und der Mystiker, der die religiöse Ekstase im direkten Dialog mit
Gott sucht, verdirbt ihr sozusagen das (einträgliche) Vermittlungsgeschäft.
Aber man kann sogar noch weiter gehen und behaupten: nicht nur jene, die den
direkten Zugang zu Gott suchen, sind eine Bedrohung für das Monopol der Kirche,
sondern Gott selbst stellt die größte Bedrohung ihrer Macht dar, und Sexualität
ist eine säkulare Form der Suche nach Gott. Um diese Behauptung allerdings
nachvollziehen zu können, muss man zunächst dem Wesen von Gott und Religion
nachspüren.
Religion bedeutet ihrem Wortsinn nach: Rück-Bindung (an
Gott). Der Begriff setzt also voraus, dass es erstens eine ursprüngliche
Verbindung zum Göttlichen gibt und dass diese Verbindung zweitens unterbrochen
oder gestört wurde und der Rück-Bindung – in Form der Religion – bedarf. Die
Religion mit ihren Praktiken (Gebet, Meditation etc.) stellt also die verlorene
Verbindung zur göttlichen Allheit wieder her.
Verlässt man allerdings die Ebene religiöser Ideologie,
so wird schnell klar, dass es sich hier tatsächlich um nichts anderes, als um
den Ausdruck eines Verschmelzungswunsches handelt.
Der französische Intellektuelle und spirituelle Sucher
Romain Roland hat in einem Brief an Freud dieses Gefühl, das die Quelle des
religiösen Begehrens darstellt, treffend als „ein Gefühl wie von etwas
Unbegrenztem, Schrankenlosen, gleichsam Ozeanischen” beschrieben. Für Freud ist
dieses ozeanische Verlangen, das die Religion zu befriedigen versucht, der
Ausdruck des Wunsches zurückzukehren zu einer frühen Stufe der Ich-Entwicklung.
Er bemerkt in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur”: „Ursprünglich
enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser
heutiges [reifes] Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines
weitumfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigen
Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach. Wenn wir annehmen dürfen, dass
dieses primäre Ichgefühl sich im Seelenleben vieler Menschen […] erhalten hat,
so würde es sich dem enger und schärfer umgrenzten Ichgefühl der Reifezeit wie
eine Art Gegenstück an die Seite stellen […]”
Das ozeanische religiöse Begehren ist für Freud also
eindeutig regressiv (zurückführend). Man träumt sich zurück in die
allumfassende Wohligkeit des mütterlichen Uterus – verkörpert durch den Schoß
der Mutter Kirche. Wer aber in diesem Schoß Geborgenheit erfahren will, muss
sich selbst aufgeben. Eine Zumutung für das moderne Individuum. Es fürchtet
nichts mehr als die Auflösung - und leidet trotzdem unter dem permanenten Zwang
sich selbst hervorzubringen, seine Einmaligkeit unter Beweis zu stellen und
sich abzugrenzen von seiner Umwelt.
Als legitime Ventile, sich der Lust der Auflösung
hinzugeben, bleiben nur nationalistischer Wahn, Fußball – oder Sex.
Abgesehen davon, dass Nationalismus dumm und Fußball langweilig ist, ersetzen
beide das Ich lediglich durch ein grundsätzlich begrenztes, antagonistisches
Wir: Die eigene Nation und die eigene Mannschaft sind nur ein größeres Ich, mit
dem sich das kleine armselige Ich identifiziert, um an dessen Stärke und Erfolg
zu partizipieren, und das sich ständig an anderen (Nationen bzw. Mannschaften)
messen muss, versucht diese zu beherrschen und zu besiegen. Sex besitzt diesen
ausschließenden, antagonistischen Charakter nicht.
Im Idealfall erlebt man in der Sexualität tatsächlich ein
Gefühl der Einheit, und zwar nicht nur mit dem Partner, sondern dieser ist
vielmehr das Objekt, an dem und mit dem umfassende Einheit erfahren wird.
Man kann deshalb sagen, dass Mystik und Sexualität im Prinzip auf die selbe
Form des Erlebens hinzielen: die Auflösung (des Ichs). Gott ist im mystischen
Sinn die Metapher dieser Auflösung, und so betrachtet ist Sexualität wiederum
in der Tat eine mystische Erfahrung:
Sex ist göttlich. Aber zugleich gilt daher: Sex wie
Gott sind eine Gefahr für die Kirche. Beide bedrohen die Ordnung, für die die
Institution der Kirche steht. Die Ordnung ist, wie Gott, eine Erfindung der
Menschen. Gott ist nichts anderes als ein Name für die Auflösung, das Nichts,
das Chaos. Und Sexualität ist eine Zelebrierung der Auflösung. Die Ordnung des
Universums fällt im Moment des Orgasmus in sich zusammen. Das Ich weitet sich,
verliert seine Grenzen. Es befindet sich in einem Zustand der Diffusion. Nie
ist man dem Wahn (und damit Gott) näher als im Moment des Orgasmus.
Dr. Anil K. Jain arbeitet als freier Wissenschaftler,
Künstler, Publizist und Verleger
http://www.power-xs.de/jain/
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