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Hintergrundinformation zu "rrreiche"
Ein TAZ-Artikel, erschienen im Herbst 2007. Er macht deutlich, welcher
Film eigentlich bei uns läuft. Hier wiedergegeben mit
freundlicher Genehmigung des Autors:
Christoph Butterwegge
Ein neoliberales Drehbuch für den Sozialabbau
Das sog. Lamsdorff-Papier leitete die „Wende“ ein
Als die Arbeitslosenzahl während der Weltwirtschaftskrise 1974/75
zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die Millionengrenze
überschritt, gerieten die SPD/FDP-Koalition unter Willy Brandt
sowie die 1969 von ihr eingeleitete Reformpolitik massiv unter Druck.
Unter seinem Amtsnachfolger Helmut Schmidt begann ein Um- bzw. Abbau
des Wohlfahrtsstaates, welcher bis heute anhält. Während
der neuerlichen Wirtschaftskrise 1980 bis 1982 konnten sich die
beiden Regierungsparteien nicht über das Tempo und die Tiefe der
Einschnitte ins soziale Netz einigen. Da sich die SPD mit den
weitreichenden FDP-Plänen schwertat, suchte Vizekanzler
Hans-Dietrich Genscher nach einer Möglichkeit, möglichst
ohne Neuwahlen einen Regierungswechsel herbeizuführen.
In der mehrwöchigen Regierungskrise spielte ein Memorandum, das
Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff am 9. September 1982
unter dem Titel „Konzept für eine Politik zur Überwindung
der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit“ vorlegte, die Schlüsselrolle. Schmidt
bezeichnete Lambsdorffs Denkschrift im Bundestag als „Dokument
der Trennung“, das als Wegweiser zu anderen Mehrheiten diene:
„Sie will in der Tat eine Wende, und zwar eine Abwendung vom
demokratischen Sozialstaat im Sinne des Art. 20 unseres Grundgesetzes
und eine Hinwendung zur Ellenbogengesellschaft.“ Schmidt
wurde drei Wochen später durch ein „konstruktives
Misstrauensvotum“ gestürzt und Helmut Kohl zum
Bundeskanzler einer CDU/CSU/FDP-Koalition gewählt.
Das sog. Lambsdorff-Papier war mehr als eine koalitionspolitische
Scheidungsurkunde, denn damit errang der Neoliberalismus die
Hegemonie, d.h. die öffentliche Meinungsführerschaft in der
Bundesrepublik. Was den Marktradikalen bereits in Großbritannien
unter Margaret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan gelungen
war, schafften sie nach dem Regierungswechsel Schmidt/Kohl auch
hierzulande: von der Fundamentalkritik am Interventionsstaat unter
dem Beifall der Massenmedien zu einer rigorosen „Reform“-Politik
überzugehen, die rückwärtsgewandt und modern zugleich
ausfiel.
Liest man es 25 Jahre später, wirft jenes
Memorandum, das Staatssekretär Otto Schlecht und
Abteilungsleiter Hans Tietmeyer für ihren freidemokratischen
Wirtschaftsminister verfasst hatten, die Frage auf, ob es sich dabei
nicht um das Drehbuch für die Regierungspolitik bis heute
handelte. So sehr entsprechen zahlreiche Maßnahmen, die seither
ergriffen wurden, dem dort niedergelegten Forderungskatalog.
Zu den erklärten Zielen des Memorandums gehörten eine spürbare
Erhöhung der Kapitalerträge und eine „relative
Verbilligung des Faktors Arbeit“ durch Senkung der
Sozialleistungsquote. Dort wurde auch das neoliberale Dogma
formuliert, wonach man die Sozialversicherungsbeiträge der
Arbeitgeber – in heutiger Diktion: die „gesetzlichen
Lohnnebenkosten“ – verringern muss, um der
Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden. Notwendig und
erfolgversprechend sei nur eine Politik, hieß es weiter, die
der Wirtschaft im Rahmen eines in sich widerspruchsfreien
Gesamtkonzepts, das auf mehrere Jahre angelegt sein müsse, durch
Schaffung „möglichst günstiger“
Investititionsbedingungen wieder den „Glauben an die eigene
Zukunft“ gebe. Ein solches Programm müsse der
Bürokratisierung eine klare Absage erteilen.
Während
den Unternehmen eine „Verbesserung der Ertragsperspektiven“
und „in besonderen Fällen auch gezielte Hilfen“
versprochen wurden, ließ das Lambsdorff-Papier keinen Zweifel
daran, dass sich die Arbeitnehmer/innen und
Transferleistungsbezieher/innen künftig selbst helfen statt noch
auf den Sozialstaat hoffen sollten. Man wollte einerseits die
öffentlichen Ausgaben „von konsumtiver zu investiver
Verwendung“ umstrukturieren und andererseits die sozialen
Sicherungssysteme „an die veränderten
Wachstumsmöglichkeiten“ anpassen sowie „der
Eigeninitiative und der Selbstvorsorge wieder größeren
Raum“ geben.
Abschließend stellte das Lambsdorff-Papier fest, im wirtschaftlichen und sozialen
Bereich könne es gar keine wichtigere Aufgabe als die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit durch Wachstumsförderung geben: „Wer
eine solche Politik als ‚soziale Demontage‘ oder gar als
‚unsozial‘ diffamiert, verkennt, daß sie in
Wirklichkeit der Gesundung und Erneuerung des wirtschaftlichen
Fundaments für unser Sozialsystem dient. ‚Sozial
unausgewogen‘ wäre dagegen eine Politik, die eine weitere
Zunahme der Arbeitslosigkeit und eine Finanzierungskrise der sozialen
Sicherungssysteme zuläßt, nur weil sie nicht den Mut
aufbringt, die öffentlichen Finanzen nachhaltig zu ordnen und
der Wirtschaft eine neue Perspektive für unternehmerischen
Erfolg und damit für mehr Arbeitsplätze zu geben.“
Auch die Überschrift der Agenda 2010 „Mut zur Veränderung“
schimmerte also schon durch, und Gerhard Schröder wurde ebenso
wenig wie Helmut Kohl müde, seine Reformen mit dem Argument zu
rechtfertigen, diese hätten statt der Zerstörung gerade die
Rettung des Wohlfahrtsstaates als Ziel. Als könne das Soziale in
seiner Substanz erhalten werden, indem die (Regierungs-)Politik es
abwertet und Stück für Stück zurückdrängt!
Von einer zeitlichen Begrenzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes
auf zwölf Monate über die Einführung eines
„demografischen Faktors“ zur Beschränkung der
Rentenhöhe („Berücksichtigung des steigenden
Rentneranteils in der Rentenformel“) bis zur stärkeren
Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen listete das Lambsdorff-Papier
detailliert fast alle „sozialen Grausamkeiten“ auf,
welche die der Regierung Schmidt folgenden Kabinette verwirklichten.
Erst das „Hartz IV“ genannte Gesetzespaket der rot-grünen
Koalition ging durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die
Absenkung des an ihre Stelle tretenden Arbeitslosengeldes II auf
Sozialhilfeniveau über den damals provokativ wirkenden
Forderungskatalog des FDP-Wirtschaftsministers hinaus. Aber auch hier
wies der neoliberale „Marktgraf“ bereits den Weg:
Lambsdorff forderte eine Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln
für Erwerbslose und eine Prüfung, ob die Arbeitslosenhilfe
nicht von – man höre und staune – den Sozialämtern
verwaltet werden könne. Selbst die erst in diesem Jahr von der
Regierung Merkel/Müntefering durchgesetzte Anhebung des
gesetzlichen Renteneintrittsalters (von 65 auf 67 Jahre) wurde schon
im Lambsdorff-Papier als „einzige Möglichkeit, weiter
steigender Belastung durch Steigerung der Lebenserwartung zu
begegnen“, und längerfristig zu realisierende Maßnahme
bezeichnet.
Hans Tietmeyer, Mitverfasser des Lambsdorff-Papiers, machte Karriere als
Bundesbankpräsident und wurde später als Leiter des
Kuratoriums der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“
(INSM), einer von den Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie
mit 100 Mio. EUR finanzierten Lobbyeinrichtung, zum ideologischen
Wegbereiter und kritischen Begleiter der rot-grünen
Reformagenda. In einer Stellungnahme mit dem Titel „Dieser
Sozialstaat ist unsozial. Nur mehr Freiheit schafft mehr
Gerechtigkeit“ verkündete Tietmeyer 2001 das neoliberale
Credo seiner Tätigkeit: „Es ist nicht sozial, sondern
ungerecht, wenn leistungswilligen Sozialhilfeempfängern durch
starre Regeln die Chance genommen wird, auf eigenen Beinen zu stehen.
Es ist ebenso unsozial, die Menschen durch Dauersubventionen abhängig
zu machen, statt ihre Eigeninitiative und Eigenvorsorge zu stärken.
Es gefährdet schließlich den Wohlstand und die soziale
Sicherheit aller, wenn der Standort Deutschland wegen mangelnder
Flexibilität seine Wettbewerbsfähigkeit verliert.“
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der
Universität zu Köln und hat kürzlich das Buch „Kritik
des Neoliberalismus“ veröffentlicht.
Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak
Kritik des Neoliberalismus
Wiesbaden (VS – Verlag für
Sozialwissenschaften) 2007, 298 Seiten, brosch., ISBN-Nr.
978-3-531-15185-4, Ladenverkaufspreis: 12,90 EUR
Christoph Butterwegge
Krise und Zukunft des Sozialstaates (3., erweiterte Aufl.)
Wiesbaden (VS – Verlag für
Sozialwissenschaften) 2006, 354 Seiten, gebunden, ISBN-Nr.
978-3-531-44848-0, Ladenverkaufspreis: 24,90 EUR
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