| Hintergrundinformation zu "bosswirtschaft"
Helmut Spitzley
Arbeitszeitverlängerung ist kontraproduktiv
- Sieben Argumente -
Merkel, Stoiber, Clement sind dafür. Auch in den Medien und an Stammtischen
mehren sich die Stimmen, die eine Verlängerung der Arbeitszeiten fordern.
Wichtige Fakten und Zusammenhänge werden dabei oft ausgeblendet.
1. Wir verfügen in Deutschland über ein materielles Wohlstandsniveau, das es in
unserer Geschichte noch nie gegeben hat. Mit immer weniger Arbeitskraft und in
immer kürzerer Zeit produzieren wir immer mehr. Selbst bei einem Wachstum von
"nur" 1 Prozent toppen wir die Produktionsrekorde des jeweiligen
Vorjahres. Auch im internationalen Vergleich liegt die deutsche Wirtschaft vorn.
Die Lohnstückkosten sind konkurrenzfähig und erlauben hohe Export- und
Leistungsbilanzüberschüsse. Es bedarf also keiner Arbeitszeitverlängerung, um
das Wohlstandsniveau halten und die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig
gestalten zu können. Strittig ist aber, wie die Arbeit und das Produkt der
gemeinsamen Arbeit zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern, zwischen den
Generationen und den Geschlechtern verteilt wird.
2. Weil wir immer effektiver arbeiten, werden immer weniger Arbeitskräfte
benötigt. Um zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, müsste die deutsche
Wirtschaft jährlich um mehr als zwei Prozent, um die Massenarbeitslosigkeit
wirklich zu überwinden, über viele Jahre sogar um 5 + x Prozent wachsen. Solch
hohe Wachstumsraten waren in der Aufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg
möglich, heute sind sie illusorisch.
3. Wir stehen also vor der Wahl zwischen hoher Arbeitslosigkeit und einer
bewußten Verteilung der vorhandenen Erwerbsarbeit. Ökonomisch klug handeln
Gesellschaften, die die durchschnittlichen Arbeitszeiten an der Menge der
verfügbaren Arbeitskräfte ausrichten. Bei hoher Arbeitslosigkeit ist daher eine
Verlängerung von Arbeitszeiten abwegig. Erwerbsarbeit würde bei immer weniger
Menschen konzentriert. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie würde noch
schwieriger. Berufseinsteigern und in den Beruf zurückkehrenden Müttern/ Vätern
würden die Beschäftigungschancen noch weiter verbaut. Die Forderungen nach
Arbeitszeitverlängerung verstoßen daher fundamental gegen das Ziel der
Vereinbarkeit von Beruf und Familie und auch gegen die
Generationengerechtigkeit. Oder ist es gesellschaftlich vernünftig, durch die
Abschaffung von Altersteilzeit den 60-jährigen Großvater zu zwingen, länger zu
arbeiten, wenn gleichzeitig seine 40-jährige Tochter oder sein 20-jähriger Enkel
arbeitslos ist?
4. Die Befürworter längerer Arbeitszeiten denken ökonomisch zu kurz. Sie wollen
Löcher stopfen, reißen in Wirklichkeit aber neue auf. Denn wenn Arbeitszeiten
verlängert werden, benötigen Unternehmen unter sonst gleichen Bedingungen
weniger Personal. Die Folge sind Personalüberhänge und Entlassungen. Die
Einstellung neuer Arbeitskräfte wird blockiert. Die Zahl der Beitragszahler in
die sozialen Sicherungssysteme sinkt. Gleichzeitig steigen die Ausgaben der
Arbeitslosenversicherung. Nicht übersehen werden darf auch, dass überlange
Arbeitszeiten auf Dauer krank machen und dann das Gesundheits- und Rentensystem
zusätzlich belasten.
5. Auch Unternehmen können von kürzeren Arbeitszeiten profitieren. Statt mit
wenig und deshalb häufig überfordertem Personal auskommen zu müssen, sind mit
kürzer und flexibel arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bessere
Ergebnisse zu erzielen. In Absatzflauten nutzen Unternehmen wie VW und nun auch
Opel und die Telekom die tarifvertraglichen Möglichkeiten zur
Arbeitszeitabsenkung. Seit 1994 hat bereits jedes fünfte Unternehmen der
deutschen Metall- und Elektroindustrie den Tarifvertrag zur
"beschäftigungssichernden Arbeitszeitabsenkung" angewendet.
Untersuchungen belegen, dass drei Viertel der Geschäftsleitungen ihre
Erfahrungen mit kürzeren Arbeitszeiten positiv bewerten. Arbeitszeitverlängerung
dagegen vernichtet Flexibilität, da bei allzu niedrigen Personalzahlen
Kapazitätsgrenzen schnell erreicht sind. Kürzere Arbeitszeiten dagegen schaffen
Freiräume, in denen Unternehmen mit ihren Belegschaften besser "atmen"
und ihr personalpolitisches Puzzle („Lego statt Duplo“) präzise an
sich ändernde Bedingungen anpassen können.
6. Ein Blick in andere EU-Länder zeigt, dass niedrige Arbeitslosigkeit nicht das
Ergebnis langer Arbeitszeiten ist. Empirisch scheint eher das Gegenteil richtig.
Denn nach Berechnung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der
Hans-Böckler-Stiftung sind diejenigen Länder beschäftigungspolitisch
erfolgreich, in denen die Wochenarbeitszeit relativ kurz ist. Die tatsächliche
Wochenarbeitszeit (einschließlich Teilzeit) beträgt in Dänemark 33,7 und in den
Niederlanden sogar nur 29,5 Wochenstunden (EU-Durchschnitt: 35,5). Gleichzeitig
ist die Arbeitslosenquote in diesen Ländern niedrig und liegt in Dänemark bei
4,7, in den Niederlanden sogar nur bei 3,2 Prozent. In Deutschland wird mit 36,1
Wochenstunden überdurchschnittlich lang gearbeitet und gleichzeitig ist die
Arbeitslosenquote bei uns mit 8,2 Prozent wesentlich höher als in Dänemark oder
den Niederlanden.
7. Zeitpolitik stellt Weichen in die Zukunft und definiert den Rahmen für die
Verteilung nicht nur von Erwerbsarbeit, sondern auch von unbezahlter Arbeit für
und mit Kindern (und Alten) und des Engagements für gesellschaftlich nützliche
zivilgesellschaftliche Aufgaben. Im Land der Produktivitätsweltmeister wäre der
Zwang zu einer generellen Verlängerung der Erwerbsarbeitszeit daher paradox und
gesellschaftlich geradezu kontraproduktiv. Denn es gibt zwei Währungen für
Wohlstand: Geld und Zeit. Anstatt längere Arbeitszeiten für alle zu fordern,
sollte die Vielfalt von Lebensinteressen stärker berücksichtigt werden. Es ist
Aufgabe von Politik, Tarifparteien und Unternehmen den weit verbreiteten
Wünschen - je nach persönlichen Lebenszielen und abhängig von biographischen
Phasen – zeitweilig oder dauerhaft kürzer zu arbeiten, ernst zu nehmen.
Kürzere Arbeitszeiten sind daher nicht länger finanz- und sozialpolitisch zu
bestrafen, sondern nachhaltig zu unterstützen. Das von Schweizer
Sozialdemokraten entwickelte Bonus-Malus-Modell zur Förderung kürzerer
Arbeitszeiten sollte operationalisiert und umgesetzt werden. Nicht zuletzt: Eine
Politik, die Kurs nimmt auf eine faire Verteilung von Arbeit und Einkommen wirkt
der sozialen Ausgrenzung und den sich epidemisch ausbreitenden Existenzängsten
entgegen. Positive Zukunftserwartungen, materielle Sicherheit und vermehrter
Zeitwohlstand sind wichtig, wenn die Lust wachsen soll, Kinder in die Welt zu
setzen. Was wir also brauchen ist „kürzere Vollzeit für alle“ und
eine neue Kultur der Zufriedenheit. Was wir brauchen ist ein Perspektivwechsel
und eine intelligente, an den Bedürfnissen von Menschen ausgerichtete
Arbeitskultur und Zeitpolitik. Der Zwang zur Verlängerung der Erwerbsarbeitszeit
gehört sicher nicht dazu.
Weitere Informationen:
Universität Bremen Institut Arbeit und Wirtschaft (IAW)
Prof. Dr. Helmut Spitzley
Parkallee 39
28209 Bremen
Tel.: 0421/218-3085 oder -3290
Email:
spitzley@iaw.uni-bremen.de
Helmut Spitzley ist Professor für Arbeitswissenschaft am Institut Arbeit und
Wirtschaft (IAW) der Universität Bremen. Arbeitsgebiete: Arbeits(zeit)forschung,
Arbeits- und Beschäftigungspolitik, Arbeit und Ökologie, Zukunft der Arbeit.
Empirische Forschungsarbeiten u. a. zur Praxis der beschäftigungssichernden
Arbeitszeitabsenkung in der deutschen Metall- und Elektroindustrie.
Stand 2007
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