Hintergrundinformation
zu "börsenlady":
Die Mittelschicht betrügt sich
selbst
von Ulrike Herrmann
Die deutsche Mittelschicht stellt die meisten
Wähler, verliert aber
immer mehr politischen Einfluss. Schuld ist das Bürgertum
selbst: Es grenzt
sich von den Armen ab, wähnt sich an der Seite der
Vermögenden - und stärkt
damit genau jene, die sich auf seine Kosten bereichern.
Die Mittelschicht ist
frustriert. In allen Umfragen
beklagen die Deutschen, dass die soziale Gerechtigkeit abnimmt. Dieser
Pessimismus ist berechtigt: Die Reichen werden reicher,
während die Zahl der
Armen steigt - und die Mittelschicht verliert nicht nur in der Krise,
sondern
selbst im Boom.
Warum aber schrumpft die
Mittelschicht? Oft wird vermutet,
der Staat sei schuld, der die Mittelschicht durch Steuern und
Sozialabgaben
ausplündere. Völlig falsch ist diese Beobachtung
nicht. Tatsächlich haben die
jüngsten Steuerreformen vor allem die Spitzenverdiener
begünstigt, während die
Mittelschicht damit allein gelassen wird, die wachsende Zahl der Armen
zu
finanzieren.
Trotzdem bleibt es seltsam,
ausgerechnet die Mittelschicht
als Opfer des Staates zu bedauern. Denn die Mittelschicht stellt noch
immer die
weitaus meisten Wahlberechtigten. Auch die Politik weiß, dass
Wahlen nur mit
der Mittelschicht zu gewinnen sind, weswegen alle etablierten Parteien
auf die
"Mitte" zielen. Die FDP etwa warb im vergangenen Bundestagswahlkampf
mit dem Slogan "Die Mitte stärken".
Die Mittelschicht kann also
nicht nur Opfer, sondern muss
auch Täter sein. Wenn sie absteigt, dann nur, weil sie an
diesem Abstieg
mitwirkt. Sie selbst ist es, die für eine Steuer- und
Sozialpolitik stimmt, die
ihren Interessen völlig entgegengesetzt ist.
Die Kosten dieses
Selbstbetrugs sind enorm. Während die
Spitzenverdiener immer weniger belastet werden, verliert die
Mittelschicht
rapide. Schon jetzt müssen normale Arbeitnehmer bis zu 53
Prozent ihrer
Arbeitskosten als Steuern und Sozialabgaben abführen -
während umgekehrt
Millionäre ihre Einkünfte nur mit durchschnittlich 34
Prozent versteuern.
Begütert
ist die
Mittelschicht nicht
Aber warum stimmt die
Mittelschicht gegen ihre eigenen
Interessen? Manche argwöhnen, dass Medien und Lobbyisten die
Bürger gezielt
verwirren, bis diese hörig den Eliten folgen. Ein Irrglaube.
Zwar ist der
Einfluss von Journalisten und Verbänden enorm - aber
grenzenlos ist er nicht.
Zeitungen müssen gekauft, Sendungen gesehen und
Lobby-Botschaften müssen erst
einmal geglaubt werden.
Auch Lobbyisten sind nur
deshalb erfolgreich, weil sie auf
das Selbstbild der Mittelschicht zielen. Sie sprechen deren
Träume und
Hoffnungen an, bedienen deren Ängste und Vorurteile. Wenn
Lobbyisten
Privilegien für die Reichen durchbringen wollen, dann
müssen sie der
Mittelschicht das Gefühl geben, dass diese ebenfalls zur Elite
gehört.
Auf den ersten Blick mag es
erstaunen, dass die
Mittelschicht überhaupt auf die Idee verfallen konnte, sich in
der Nähe der
Elite zu glauben. Denn begütert ist die Mittelschicht nicht:
·
Zur
Mittelschicht zählt, wer als Single zwischen
1000 und 2200 Euro netto im Monat hat.
·
Bei
einem Ehepaar mit zwei kleinen Kindern sind es zwischen 2100 und 4600
Euro
netto. Darunter beginnt die Unterschicht, darüber schon die
Oberschicht.
Die
obersten zehn
Prozent besitzen 61 Prozent des Volksvermögens
Doch die Mittelschicht nimmt
nicht wahr, wie groß der
Abstand zu den Vermögenden tatsächlich ist. Der
Glaube an den eigenen Aufstieg
ist ungebrochen, wie auch der Boom der Privatschulen zeigt. Im Kampf um
die
eigene Karriere entgeht der Mittelschicht, wie unerreichbar die Eliten
sind,
die ihren Status nicht etwa durch Leistung erwerben, sondern von
Generation zu
Generation vererben: Die obersten zehn Prozent besitzen bereits 61
Prozent des
gesamten Volksvermögens und kassieren 36 Prozent aller
Einkünfte.
Der Selbstbetrug wird der
Mittelschicht leicht gemacht.
Die Reichen verschleiern ihren Wohlstand derart gekonnt, dass
völlig unklar
ist, wie reich sie wirklich sind. Fest steht nur, dass Billionen aus
der
Statistik verschwinden. Der Grund: Das Statistische Bundesamt erfasst
keine
Einkommen über 18.000 Euro netto im Monat - die wirklich
Reichen tauchen in den
offiziellen Zahlen also gar nicht auf.
Die Mittelschicht
überschätzt ihren Status aber auch, weil
sie viel Kraft und Aufmerksamkeit darauf verwendet, sich vehement von
der
Unterschicht abzugrenzen. Nur zu gern pflegt die Mittelschicht das
Vorurteil,
dass die Armen Schmarotzer seien. So meinen immerhin 57 Prozent der
Bundesbürger, dass sich Langzeitarbeitslose "ein
schönes Leben auf Kosten
der Gesellschaft machen". Aus dieser Verachtung für die
Unterschicht
entsteht eine fatale Allianz: Die Mittelschicht wähnt sich an
der Seite der
Elite, weil sie meint, dass man gemeinsam von perfiden Armen
ausgebeutet werde.
Die
Kosten der Finanzkrise bleiben an der Mittelschicht hängen
Künftig
dürfte die Mittelschicht
sogar noch stärker belastet werden. Die Finanzkrise hat die
Staatsverschuldung
stark erhöht - und diese Kosten wird erneut allein die
Mittelschicht tragen,
wenn sie sich nicht aus ihrem verqueren Bündnis mit den
Vermögenden löst.
Die Mittelschicht ahnt
bereits, dass die Kosten der
Finanzkrise an ihr hängen bleiben sollen. Trotzdem wendet sie
sich weiterhin
gegen die Unterschicht und nicht etwa gegen die Eliten. So sagen fast
65
Prozent aller Menschen, die sich selbst von der Wirtschaftskrise
betroffen
fühlen: "In Deutschland müssen zu viele schwache
Gruppen mitversorgt
werden." Wieder gerät völlig aus dem Blick, dass vor
allem die Vermögenden
davon profitiert haben, dass der Staat mit Milliardensummen Banken und
Wirtschaft gerettet hat.
Die Mittelschicht wird so
lange für die Reichen zahlen,
wie sie sich selbst zu den Reichen zählt.
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